Ich bin Buchautor, damals noch Inhaber einer kleinen Werbeagentur, Mittfünfziger, Kennzeichen: Dauerstress und materielle Sorgen. Auf- und abschwellende Herzbeschwerden seit rund drei Jahren. Viel Alkohol und wenig Bewegung als zwangsläufige berufliche Begleiterscheinungen.
16. Dezember 2011
8:45 Uhr
Ein kalter, trüber Dezembermorgen, Schnee lag in der Luft, dazu noch Glättegefahr. Auf der Fahrt vom Breitscheider Kreuz zum Düsseldorfer Büro die üblichen Gedanken: Ist das Flugticket nach München abgeholt? Habe ich alle Unterlagen dabei? Wird endlich heute die erhoffte Überweisung eingehen?
Dann, genau vor dem Abfahrtsschild Ratingen-West, urplötzlich ein stechender Schmerz in der Magengegend, als hätte jemand ein Schwert voller Wucht hineingerammt. Ist es ein schlimmer Krampf? War der Fisch gestern Abend etwa nicht mehr ok? Warum hört das nicht auf? Warum diese wütende Aufruhr im ganzen Oberkörper? Besser kurz rechts ran, anhalten, ruhig sitzen und nachdenken. Vielleicht doch lieber abfahren und schnell im Ratinger Krankenhaus nachsehen lassen, ob eine Fischvergiftung dahinter steckt? Oder die paar Kilometer ins Büro, und von dort aus den Internisten anrufen?
Ganz allmählich geht es mir etwas besser, die Krämpfe lassen langsam nach, aber eine eigenartige Schwäche, eine dumpfe Benommenheit, bleibt. Also zurück auf die Fahrspur, es sind ja nur noch ein paar Minuten bis zum rettenden Schreibtischsessel…
9:15 Uhr
Die Sekretärin: „Mein Gott, wie sehen Sie denn aus – ganz grau und verzerrt im Gesicht.“ Ein heißer Tee, etwas Ruhe – nein danke, ich warte erst noch eine Weile ab, bevor wir den Arzt anrufen. Bis zum Flug wird es sich schon wieder geben…
16:50 Uhr
Abflug LH 431 nach München. Schlapp fühle ich mich, aber auch ruhig. Die Schmerzen sind weg. War doch wohl nur ein Magenkrampf…
18:20 Uhr
Mein Freund Charles holt mich ab, meint wir sollten nicht groß essen gehen, sondern uns lieber bei Weißwurst, Bier und Brezeln über Gott und die Welt unterhalten.
22:00 Uhr
Der Abend tat gut. Wir haben allerdings auch über den plötzlichen Tod eines Freundes nachgedacht – Herzinfarkt, viel zu früh und unerwartet. Per S-Bahn nach Gräfeling, der Ort des anderntags anstehenden Termins. Kleines, verschlafenes Hotel mit ebensolchem Portier. Traumloser Schlaf…
17. Dezember
4:15 Uhr
Ein furchtbarer Schlag, eine schreckliche Gewalt zerreißt mir die Brust. Alles in mir explodiert in einem einzigen, rasenden Schmerz – er wirft mich beinahe aus dem Bett. Ist das der Tod? Kommt er so entsetzlich über mich? Was soll ich nur tun? Etwa mich an den Bettrand setzen und meine Arme um die Brust legen, oder aufstehen und mich irgendwo festhalten? Oder mich flach auf den Boden legen? Wenn nur diese fürchterlichen Schmerzen endlich nachlassen würden!
Ruhig Blut, vernünftig bleiben, Alarm schlagen hilft in diesem verschlafenen Haus ja doch nichts. Lieber sich ganz still verhalten, dann vorsichtig aufrappeln und die Klamotten zusammensuchen. Ganz langsam wir es etwas besser, die Uhr zeigt halb sechs. Mir ist unendlich übel und matt zumute…
6:30 Uhr
Angezogen auf dem Bett liegen und abwarten hilft tatsächlich etwas. Die panische Angst vor einem neuen Anfall jedoch bleibt, dazu ein Gefühl, als hätte ich meinen Körper schon halb verlassen. Das Herz macht sich ganz eigenartig bemerkbar: Mal scheint es zu rasen, mal auszusetzen, mal gar nichts mehr zu tun…
7:10 Uhr
Der Fahrer des Kunden wartet draußen. Ich habe bezahlt, schleppe mich zum Ausgang, er sieht mich und stürzt auf mich zu: „Um Himmelswillen, was ist denn mit Ihnen? Ich bringe Sie sofort zu meinem Doktor, der ist heute schon ganz früh in der Praxis, weil er zum Skifahren übers Wochenende in die Berge will!“
7:30 Uhr
Die Praxistür geht auf, ein Blick zu mir hin, dann „Sofort hinlegen! Rühren Sie sich nicht!“ Danach eine Spritze, das laute Martinshorn draußen, Sanitäter – alles hinter einem Grauschleier, als ob nicht ich, sondern irgendein Fremder zum Krankenhaus gefahren würde.
8:10 Uhr
Intensivstation des Pasinger Krankenhauses. Nochmals Spritzen, Umbetten, eine Hand auf meiner Schulter „Nur ruhig, wir kriegen Sie schon wieder hin“ (Später sagte man mir, dass es ganz und gar nicht rosig aussah). Dann Katheter in Hals und Nase, wegdämmern – ich ahne lediglich, dass ich gerade noch mit dem Leben davongekommen bin.
11:00 Uhr
Drei Ärzte an meinem Bett gratulieren mir: Es war ein massiver Hinterwandinfarkt, aber zum Glück gelang die Auflösung des verursachenden Blutgerinnsels ohne Probleme. Allerdings dürften nach ersten Erkenntnissen gravierende Gefäßverengungen vorliegen, die in ihrem Umfang noch genauer definiert werden müssen. Und ob ich denn nie Beschwerden gehabt hätte? Doch jetzt erstmal Ruhe und nochmals Ruhe – und herzlichen Glückwunsch zum zweiten Leben!
Ist es Ihnen ähnlich ergangen? Sie werden bei der Lektüre dieser Zeilen möglicherweise festgestellt haben, dass dieser Bericht gleichzeitig ein Protokoll der unverzeihlichen Fehler ist, die unglücklicherweise von zahllosen anderen Infarktkandidaten so oder ähnlich begangen wurde – und noch werden.
Fehler Nr. 1
Die erste Attacke auf dem Weg zum Büro war so massiv und typisch zugleich, dass sofortige ärztliche Hilfe dringend angezeigt war. Der überfallartige Charakter der Schmerzen und ihre Ausbreitung von der Magengegend in den ganzen Oberkörper waren unmissverständlich Signale von akuten Durchblutungsstörungen (die Münchner Ärzte schlossen nicht aus, dass der Anfall am Morgen des 16. Dezembers bereits von einem Verschluss herrührte, der sich noch einmal auflöste und dadurch eine kurzfristige Linderung bewirkte).
Fehler Nr. 2
Der Gipfel der Dummheit war der hartnäckige Versuch, das körperliche und innere Gleichgewicht wieder herzustellen, indem einfach darauf gewartet wurde, dass das Ganze sozusagen von selbst wieder ins Lot kommt – und das für mehr als drei Stunden. Auch hier hätte es nur eine richtige Reaktion gegeben: Den sofortigen Ruf nach ärztlicher Hilfe.
Glück im Unglück, und möglicherweise der ausschlaggebende Punkt für das Überleben, war die schnelle Reaktion des Fahrers und die zufälligerweise sehr frühe Anwesenheit des Hausarztes gleich um die Ecke vom Hotel.
Verfolgt man diese Herzgeschichte zurück bis zu ihren Anfängen, so müsste ein weiterer kapitaler Fehler unbedingt noch hinzugenommen werden. Es ist das von vielen tausenden Betroffenen praktizierte leichtfertige Verdrängen bzw. jahrelange Bagatellisieren von andauernden „Beschwerden in der Herzgegend“.
Machen Sie es anders als ich!
Anonymer Patientenbericht